Alles, was mit Landlust und -liebe sowie alten Traditionen zu tun hat, erlebt seit ein paar Jahren einen riesigen Hype. Doch es gibt Brauchtümer, denen etwas Unheimliches anhaftet und von denen man lieber nur hinter der vorgehaltenen Hand spricht. Einen solchen hat Monika Reinbold wiederbelebt. Mit der Laterne in der Hand nimmt sie Unerschrockene mit auf eine Tour über die Mundinger Waldhöfe. Dort wo die Toten vor nicht langer Zeit noch zu Hause aufgebahrt wurden, die Angehörigen Totenwache hielten und die Lichtsagerin von Haus zu Haus ging und verkündete, wann die Beerdigung stattfinden sollte.
Da mein Liebster und ich uns eigentlich nicht zu den Angshasen zählen, haben wir uns an einem dämmrigen Abend zusammen mit 30 anderen tapferen, warm eingepackten Männer und Frauen beim Gasthaus Stilzer Fritz eingefunden, ausgerüstet mit Laternen und gutem Schuhwerk, wie vorab empfohlen. Vorsichtig nähern sich die unbekannten Leute ein bisschen an, kommen da und dort ins Gespräch. Plötzlich gellt ein Schrei: "D’ Kiaferi ihr Mann isch gschtorbe!" Wir zucken zusammen. Eine Frau im strengen schwarzen Rock, mit schwarzem Kopftuch und einem roten Leinensäckchen umgegürtet ist plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht. Die absonderliche Gestalt scheucht die Gastwirtin mit lautem Ruf auf. Die Besitzerin des Stilzer Fritz, einem alten Gasthof bei Emmendingen, einsam zwischen Mundingen und Freiamt gelegen, lauscht und wiegt bedächtig den Kopf hin und her. Wir verfolgen gebannt den Dialog der beiden Frauen.
"Ich bin d’ Lisbeth, d’ Lichtsageri", erklärt die Schwarzgewandete der Wirtin und uns, der Gruppe von Neugierigen. Die Lichtsagerin ist gekommen, um von einer "Liich", alemannisch für Leiche, zu berichten. Den Tod des Küfers hat sie zu verkünden, danach lädt sie im Namen der Witwe zu seiner Beerdigung ein. Nach kurzem Plausch wird sie weiter wandern zum nächsten Hof. Wir dürfen mit. Schauspielerische Erlebnisführung nennt sich das.
Vor allem Paare und kleinere Gruppen sind dabei, die meisten aus Emmendingen und Freiburg, wie die Auto-Kennzeichen auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus verraten, aber auch aus Pforzheim und München. Für Kinder ist das vierstündige Programm wohl eher zu lang, zu spät - und auch zu gruselig.
Während sich der Abendhimmel allmählich rötet, zünden wir unsere Kerzen in den mitgebrachten Laternen an. Malerisch sieht es aus, wie die großen und kleinen Leuchten da stehen und die heraufziehende Dämmerung erhellen. Die Gästeführerin Monika Reinbold ist an diesem Abend in die Rolle der Tagelöhnerin Lisbeth geschlüpft, die als Lichtsagerin ein Zubrot verdient. In dieser Gestalt wird sie über das Leben der Bauern, ihre Sagen und ihren Aberglauben berichten.
Bevor wir uns auf den Weg machen, schenkt die "Stilzerin" auf zwei großen Töpfen dampfende Gerstensuppe zur Stärkung aus. Monika Reibold erzählt derweil von Leben und Beruf der Lichtsagerin Lisbeth. Die Figur ist erfunden, doch den Beruf der Lichtsagerin gab es früher wirklich in diesen Tälern. Es war ein einsames Los. Bis in die 1960er überbrachten alte, verarmte Tagelöhnerinnen den Bauern die Hiobsbotschaft. Sie wanderten von Hof zu Hof, oft weite Strecken, um vom Tod eines Gemeindemitglieds zu berichten. Nur so konnten die Bauern auf den weit verstreut liegenden Höfen davon erfahren. Jeder Hof entsandte dann ein Mitglied zum Trauerzug, der den Verstorbenen von seinem Sterbezimmer bis zum Friedhof geleitete.
Aufgeregt wie eine Schulklasse auf Klassenfahrt gehen wir los. "Immer zsämme blibe!", ruft Reibold. Malerisch sieht es aus, wie die kleine Gruppe im Schein der Laternen durch die dunkle Landschaft läuft. Die Kerzen machen ein warmes Licht, das nicht weit in die Dunkelheit dringt. Kein Laut ist zu hören, nur unsere Schritte, vereinzeltes Kichern und Wispern. Immer wieder bleiben wir stehen, und Lisbeth erzählt mit Flüsterstimme, wie das Leben und Sterben auf den alten Höfen früher vor sich ging. Im Zimmer des Verstorbenen, der auf dem Bett aufgebahrt lag, musste die Nacht über Totenwache gehalten werden. Die Kerze im Zimmer war das einzige Licht weit und breit, draußen vor dem Fenster herrschte absolute Dunkelheit. Der nächste Hof war weit entfernt.
Plötzlich zerreißt der Ruf eines Nachtvogels das angespannte Schweigen. Käuzchen, Eule? Keine Ahnung - doch die kurz hintereinander ausgestoßenen Schreie "Kuwi, kuwi" vermitteln uns noch instensiver das Gefühl, gaaaaanz weit weg zu sein. Wir erfahren von Lisbeth, dass der Ruf von einem Kauz stammt. Er klingt in den Ohren des Wachenden wie eine Aufforderung, ein "Komm mit". Dem Totenvogel, wie der Rufer auch genannt wurde, folgen wir lieber nicht.
Nach einer Weile tritt die dunkle Silhouette des Amsenhofs aus der Dunkelheit. Schon von weitem ruft die Lichtsagerin den Tod des Küfers aus. Erhängt hat er sich, erzählt sie der neugieren Amsenbäuerin – auf dem Dachboden. "Das ist auch kein Wunder, denn seine Frau ist eine Schindmähr mit boshaftem Maul", meint diese. Die schmutzigen Details, den Tratsch und Klatsch liefert die Lichtsagerin gleich mit. Der selbst gebrannte Schnaps der Amsenbäuerin löst die Zunge. Zehn Mark hat sie früher von jedem Hof für ihre Dienste bekommen, einen wärmenden Schnaps, ein Ei oder einen Tiegel Schmalz gab es dazu. Damit lüftet sich auch das Geheimnis des roten Säckchens. In das sind die beiden letztgenannten Gaben gewandert. Auch wir dürfen von dem selbst Gebrannten der Amsenbäuerin probieren. Die meisten Damen bevorzugen jedoch den Eierlikör, ebenfalls nach altem Hausrezept selbst hergestellt. Ein gleißeder Sternenhimmel wölbt sich über uns, wie man ihn über der erleuchteten Kulisse einer Großstadt niemals sieht. Es ist kalt. Der letzten Lichtsagerin sind Kälte und Schnaps zum Verhängnis geworden. Sie hatte zu viel getrunken und wurde am nächsten Morgen erfroren unter einem Schneehügel gefunden.
Auf dem Weg zum Huttenhof treffen wir einen Pestkranken in den letzten Todeszuckungen. Der Todgeweihte torkelt von Wanderer zu Wanderer, schwenkt seine rußige Pechfackel und röchelt sich schier die Lunge aus dem Hals. Urplötzlich kippt er um und rollt in den Acker. "Lehn ihn liege!", empfiehlt Lisbeth und scheucht ihre "Schafe" weiter.
Mehr Horrorgeschichten gibt es unterwegs: Großes Unglück droht dem, der einem Schimmelreiter begegnet. Ein Schäfer traf einmal einen solchen Reiter – am nächsten Tag war die Pest in seinem Heimatdorf. Und eine böse Überraschung erleben jene, die nicht glauben wollen, dass auf der gegenüberliegenden Hügelkette die Hexen sich zum Tanze mit dem Teufel trafen. Nach all diesen Schrecken sind wir froh, den Huttenhof zu erreichen. Dort empfangen uns drei Hofhunde. Einer davon ein kleiner Kläffer. In dem Lärm gehen die Worte der Lichtsagerin unter. Macht nichts, es ist alles gesagt. Die Huttenhofbäuerin lädt zu Schmalzbroten und Most ein.
Es ist spät, als wir zum Stilzer Fritz zurückkehren. Bei Vesperbrett, Wurstsalat und einem Glas Bier wärmen wir unsere durchgefrorenen Glieder und stärken uns von den Schrecken des Abends. Und sind froh, dass wir im sicheren Auto nach Hause fahren können.